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2024-10 |
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Hannes Katers Grammatik Wenn wir nach einer Grammatik für Hannes Katers Notationssystem fragen, stoßen wir zunächst auf ein begriffliches Problem: Grammatik entstammt der Sprachwissenschaft und beschreibt die Regeln für die Kombination diskreter Zeichen in linearen Sequenzen. Katers System hingegen operiert im Bildraum mit kontinuierlichen visuellen Elementen, die sich räumlich zueinander verhalten. Dennoch führt diese Fragestellung zu einem faszinierenden theoretischen Ansatz, der seit den 1970er Jahren entwickelt wurde: der spatialen Grammatik.[1] Die Grundlagen dieses Konzepts schufen George Stiny und James Gips mit ihrem revolutionären Aufsatz "Shape Grammars and the Generative Specification of Painting and Sculpture" von 1971. Ihre Innovation bestand darin, die Chomsky'sche Phrasenstrukturgrammatik [2] auf visuelle Formen zu übertragen, wobei sie einen entscheidenden Unterschied erkannten: Während klassische Grammatiken mit diskreten Symbolen arbeiten, die nacheinander angeordnet werden, operieren ihre "Figur-Grammatiken" mit kontinuierlichen geometrischen Entitäten im Raum. Stiny beschrieb dies als "reine visuelle Berechnung", bei der die Beziehungen und Operationen räumlich und nicht symbolisch sind. Diese Erkenntnis eröffnete ein neues Verständnis visueller Kommunikation. Die Kognitionspsychologie bestätigte, dass visuelle Informationen parallel, verbale hingegen sequenziell verarbeitet werden. Daraus entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten verschiedene Forschungsstränge: Visuelle Programmiersprachen entstanden als praktische Anwendung, die Gebärdensprachforschung erkannte die fundamentale Räumlichkeit dieser Kommunikationsformen, und die Semiotik begann, räumliche Bedeutungsproduktion systematisch zu erforschen. Der Begriff "spatiale Grammatik" wandelte sich dabei von einer bloßen Analogie zu sprachlichen Strukturen zu einem eigenständigen theoretischen Rahmen. Während Stiny und Gips noch von formaler Äquivalenz sprachen, erkannten spätere Theoretiker, dass räumliche Grammatiken qualitativ andere Erkenntnispotenziale eröffnen. Sie entwickelten sich von generativen Systemen, die neue Formen nach vorgegebenen Regeln erzeugen, zu interpretativen Medien, die Bedeutung durch räumliche Beziehungen konstituieren. |
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Für Katers Notationssystem erweist sich diese theoretische Entwicklung als höchst aufschlussreich. Seine "Darsteller" funktionieren nicht als statische Symbole in einem Lexikon, sondern als dynamische Akteure in einem "Bedeutungsökosystem". Die von ihm verwendete "Stellenwertsemantik" entspricht der Entwicklung spatialer Grammatiken von der symbolischen zur relationalen Bedeutungsproduktion. Größe, Farbe und Position der Darsteller fungieren als grammatische Kategorien, die die Grundbedeutung kontextuell modulieren. Das System entwickelt sich organisch durch die Praxis des Zeichnens und erhält dadurch die Eigenschaft der Selbstregulation, die moderne Theorien spatialer Grammatiken als wesentliches Merkmal identifiziert haben. Die Frage nach der Nutzbarkeit dieses Konzepts für Katers Arbeit lässt sich aus drei Perspektiven beantworten: Aus der Perspektive des Praktikers könnte eine systematische Auseinandersetzung mit spatialer Grammatik durchaus hilfreich sein. Sie würde Kater ermöglichen, die impliziten Regeln seines Systems zu explizieren und bewusst zu erweitern. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Darstellern, die Systematisierung ihrer Kombinationsmöglichkeiten und die Reflexion über die Wirkung räumlicher Anordnungen könnte neue kreative Potenziale eröffnen. Gleichzeitig birgt eine zu starke Formalisierung die Gefahr, die organische Entwicklungsfähigkeit des Systems zu behindern, die gerade seine Stärke ausmacht. Für den Rezipienten könnte das Konzept der spatialen Grammatik durchaus eine Verstehenshilfe darstellen. Es würde ihm ermöglichen, die Notationen nicht als willkürliche Bildzeichen zu betrachten, sondern als strukturiertes System mit eigenen Regeln zu verstehen. Die Erkenntnis, dass räumliche Beziehungen bedeutungstragend sind und dass die Interpretation nicht linear erfolgt, sondern kontextuell und relational, könnte den Zugang zu Katers Zeichnungen erheblich erleichtern. Allerdings müsste eine solche Grammatik behutsam vermittelt werden, um nicht die intuitive Bildrezeption zu überformen. Aus der Perspektive der Dokumentation und Vermittlung erscheint eine online verfügbare Grammatik durchaus realisierbar und sinnvoll. Sie könnte die Darsteller systematisch vorstellen, ihre Variationen dokumentieren und Beispiele für ihre Kombinationen geben. Entscheidend wäre dabei, dass sie nicht als starres Regelsystem konzipiert wird, sondern als dynamisches Hilfsmittel, das die Eigenlogik des Systems respektiert. Eine solche Grammatik müsste selbst "spatial" organisiert sein, also nicht linear durch die Darsteller führen, sondern deren Beziehungen und Kontexte visualisieren. |
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Anhang [1] "Spatial" leitet sich vom lateinischen "spatium" ab und bedeutet "den Raum betreffend". Die Verbindung mit "Grammatik" entstand aus der Erkenntnis, dass auch räumliche Anordnungen regelhafte Strukturen aufweisen können, die der Organisation sprachlicher Elemente analog sind. Der Begriff "spatiale Grammatik" markiert den Übergang von einer rein zeitlich-sequenziellen zu einer räumlich-simultanen Auffassung von Struktur und Bedeutung. Er signalisiert, dass Raum nicht nur Container für Bedeutung ist, sondern aktiv an ihrer Konstitution teilnimmt eine Erkenntnis, die Katers Notationssystem in seiner vollen Komplexität erst verständlich macht. [zurück] [2] Die Chomsky'sche Phrasenstrukturgrammatik, entwickelt von Noam Chomsky in den 1950er Jahren, revolutionierte unser Verständnis von Sprache und gilt als eine der einflussreichsten Theorien des 20. Jahrhunderts. Um ihre Bedeutung zu verstehen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, wie Sprachwissenschaft vor Chomsky funktionierte. Bis in die 1950er Jahre betrachteten Linguisten Sprache hauptsächlich als erlerntes Verhalten, das durch Nachahmung und Wiederholung erworben wird. Sprache wurde als Sammlung von Gewohnheiten verstanden, die sich durch Konditionierung entwickeln. Chomsky stellte diese Sichtweise grundlegend in Frage: Wenn Sprache nur angelerntes Verhalten wäre, fragte er, wie können dann Kinder bereits im Alter von wenigen Jahren völlig neue Sätze bilden und verstehen, die sie nie zuvor gehört haben? Wie können sie aus einer begrenzten Anzahl von Beispielen unendlich viele neue, grammatisch korrekte Äußerungen produzieren? Chomskys Antwort war revolutionär: Menschen besitzen eine angeborene Fähigkeit zum Spracherwerb, eine Art "Sprachorgan" im Gehirn, das mit universellen grammatischen Prinzipien ausgestattet ist. Diese Universalgrammatik ermöglicht es jedem Kind, aus den sprachlichen Äußerungen seiner Umgebung die dahinterliegenden Regeln zu erschließen und ein komplettes grammatisches System zu entwickeln. Sprache ist demnach nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern ein Fenster in die Struktur des menschlichen Geistes. Das Herzstück von Chomskys Theorie ist die Phrasenstrukturgrammatik, ein formales System, das beschreibt, wie Sätze aus kleineren Einheiten zusammengesetzt werden. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Satz wie "Der kluge Hund jagt die schwarze Katze." Chomsky zeigte, dass dieser Satz nicht einfach eine Aneinanderreihung von Wörtern ist, sondern eine hierarchische Struktur besitzt. Der Satz gliedert sich in eine Nominalphrase ("Der kluge Hund") und eine Verbalphrase ("jagt die schwarze Katze"). Die Nominalphrase wiederum besteht aus einem Artikel ("der"), einem Adjektiv ("kluge") und einem Substantiv ("Hund"). Diese Struktur lässt sich als Baumdiagramm darstellen, in dem jeder Knoten eine grammatische Kategorie repräsentiert. Die Genialität dieses Ansatzes liegt in seiner Fähigkeit, mit einer begrenzten Anzahl von Regeln unendlich viele Sätze zu erzeugen. Die Regeln funktionieren wie ein Rezept: "Eine Nominalphrase kann bestehen aus einem Artikel, einem Adjektiv und einem Substantiv" oder "Ein Satz kann bestehen aus einer Nominalphrase und einer Verbalphrase." Diese Regeln sind rekursiv sie können sich selbst aufrufen und dadurch beliebig komplexe Strukturen erzeugen. So kann eine Nominalphrase eine weitere Nominalphrase enthalten ("der Hund des Nachbarn"), was theoretisch unendlich fortsetzbar ist. |
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Chomsky unterschied dabei zwischen der "Tiefenstruktur" und der "Oberflächenstruktur" von Sätzen. Die Tiefenstruktur repräsentiert die grundlegende grammatische Organisation und die Bedeutung, während die Oberflächenstruktur das ist, was wir tatsächlich hören oder lesen. Verschiedene Oberflächenstrukturen können dieselbe Tiefenstruktur haben (wie bei Aktiv- und Passivsätzen), und umgekehrt kann eine Oberflächenstruktur mehrere Tiefenstrukturen haben (wie bei mehrdeutigen Sätzen). Transformationsregeln verbinden diese beiden Ebenen und erklären, wie aus der abstrakten Tiefenstruktur konkrete Äußerungen werden. Ein weiterer revolutionärer Aspekt von Chomskys Theorie war die Formalisierung der Grammatik. Er entwickelte eine mathematische Notation, die es ermöglichte, grammatische Regeln präzise zu beschreiben und zu analysieren. Diese Formalisierung machte Sprachwissenschaft zu einer exakten Wissenschaft und ermöglichte es, Hypothesen über Sprache systematisch zu testen. Gleichzeitig etablierte Chomsky eine Hierarchie verschiedener Grammatiktypen, von einfachen regulären Grammatiken bis zu komplexen kontextsensitiven Grammatiken, wobei natürliche Sprachen in die Kategorie der kontextfreien Grammatiken fallen. Die Auswirkungen dieser Theorie reichten weit über die Sprachwissenschaft hinaus. Sie inspirierte die Entwicklung der Computerlinguistik und der künstlichen Intelligenz, da formale Grammatiken die Grundlage für Programmiersprachen und Sprachverarbeitungssysteme bilden. In der Psychologie führte sie zu neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise des menschlichen Geistes und untermauerte die Vorstellung, dass komplexe kognitive Fähigkeiten auf angeborenen Strukturen basieren. Die Philosophie wurde durch die Idee beeinflusst, dass Sprache ein Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur ist. |
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Für die Entwicklung spatialer Grammatiken war Chomskys Ansatz von grundlegender Bedeutung, aber auch problematisch. Einerseits lieferte er das theoretische Fundament: die Idee, dass komplexe Strukturen durch einfache Regeln erzeugt werden können, dass Rekursion kreative Potenziale eröffnet, und dass Grammatiken formal beschreibbar sind. Andererseits war Chomskys System fundamental auf die Linearität und Sequenzialität der Sprache ausgerichtet. Seine Regeln beschreiben, wie Wörter nacheinander angeordnet werden, wie Phrasen in zeitlicher Abfolge aufgebaut werden, und wie Transformationen die lineare Struktur verändern. Diese Limitation erkannten Stiny und Gips, als sie ihre Shape Grammars entwickelten. Sie übernahmen Chomskys grundlegende Einsicht, dass komplexe Strukturen regelbasiert erzeugt werden können, mussten aber das sequenzielle Paradigma aufgeben. In visuellen Systemen gibt es keine natürliche Leserichtung, keine zeitliche Abfolge, keine eindeutige Hierarchie von links nach rechts oder von oben nach unten. Stattdessen organisieren sich visuelle Elemente durch räumliche Beziehungen: Nähe und Distanz, Überlappung und Trennung, Größenverhältnisse und Proportionen. |
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Diese Erkenntnis führte zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel. Während Chomskys Grammatik die Sprache als zeitliches Phänomen beschreibt, das sich in der Dimension der Sequenz entfaltet, konzeptualisieren spatiale Grammatiken Bedeutung als räumliches Phänomen, das sich in den Dimensionen des Raumes konstituiert. Dieser Übergang von der temporalen zur spatialen Logik eröffnete neue Möglichkeiten für das Verständnis visueller Kommunikation und bildlicher Erkenntnis, die weit über Chomskys ursprüngliche Intention hinausreichen, aber ohne seine theoretischen Grundlagen nicht denkbar gewesen wären. [zurück] |
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